Freitag, 23. März 2012

Früchte der Revolution

Es vergeht kein Tag, an dem der Rat der Front der Nationalen Rettung in Bukarest nicht Gesetze und Dekrete aufhebt oder neue bekannt gibt. Die Eile, mit der die neue Gesetzgebung vorangetrieben wird, ist angesichts der chaotischen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Rumänien verständlich. Man will so schnell wie möglich so viel wie möglich vom Erbe Ceauşescus loswerden. Diese Gesetzesflut birgt aber auch Gefahren in sich. Die größte liegt wohl darin, daß in Zukunft nur das für richtig gehalten wird, was vom Rat der Front der Nationalen Rettung gutgeheißen wird  und nur das unternommen wird, was von diesem Rat abgesegnet ist. Die für den demokratischen Anfang so wichtige Eigeninitiative könnte dadurch überhaupt nicht zum Tragen kommen. Es besteht ferner die Gefahr, daß die verhaßten Parteikontrollen in allen Lebensbereichen jetzt den Mitgliedern der Räte der Front der Nationalen Rettung übertragen werden!
In einer Ansprache des neuen rumänischen Regierungschefs Ion Iliescu, die am 7. Januar von Radio Bukarest ausgestrahlt wurde, heißt es: "Die Gründung der Räte der Front der Nationalen Rettung auf allen Ebenen in einer kurzen Zeitspanne hat die Grundlagen der neuen Machtorgane geschaffen, welche zu praktischen Aktivitäten übergegangen sind ... Bei der ersten Begegnung des Nationalen Rates mit den Vorsitzenden der Kreisräte der Front der Nationalen Rettung wurde beschlossen, die Ergänzung und Bestätigung der Räte der Front auf allen Ebenen von unten nach oben vorzunehmen, beginnend mit jenen aus den Wirtschafts- und Sozialeinheiten auf der Grundlage von freien Wahlen der Vertreter aller dazugehörigen Sektoren, aller Kategorien der werktätigen Menschen in die Räte der Front, auf Betriebsebene, Institution, wie auch durch gleiches Verfahren die endgültige Zusammensetzung und Ergänzung der Räte in Ortschaften und Kreisen, durch die Bestätigung und Delegierung aller Mitglieder durch die Arbeitskollektive, aus denen sie kommen, vorzunehmen." Diese schwerfällige Anweisungssprache unterscheidet sich kaum in Form und Inhalt von der bis dahin üblichen Parteisprache.
Auch die Medien in Rumänien scheinen in ihren Berichterstattungen über die Ereignisse im Land andere Schwerpunkte als die ausländischen Reporter zu setzen. Im ÖSTERREICHISCHEN FERNSEHEN wurde am 7. Januar wie folgt berichtet: "Zwei Wochen nach dem Sieg der Revolution wächst das Mißtrauen wieder gegen die neue Führung unter Ion Iliescu. Studenten, Intellektuelle und Vertreter der neuen Parteien stellen zunehmend die Legitimation der neuen Führung in Frage. Die Stimmung an den Universitäten ist geladen. Auch sie, die Jugend des Landes, sagt ein Studentenführer, sei für die Revolution gestorben. Doch zu wenig hätte sich bisher geändert. Noch immer geben die alten Kommunisten den Ton an. ... Alle ehemaligen Kommunisten müßten aus der Regierung verschwinden. Erst dann seien Reformen zu erwarten." Zu derselben Veranstaltung gab RADIO BUKAREST am 7. Januar bekannt: "Am Polytechnischen Institut in Bukarest trafen sich heute morgen Studenten, Mitglieder der freien Gewerkschaft aus diesem Institut, wie auch Vertreter anderer Studentenbewegungen aus der Hauptstadt und aus dem Land zu einem friedlichen Meeting. Die Studenten haben in einem Geiste der authentischen gegenwärtigen Demokratie gefordert, man solle ihnen eine Serie von Forderungen, betreffend ihre Lern- und Lebensbedingungen erfüllen. ... Die Studenten haben ebenfalls gefordert, in der Regierung durch legitime, nach dem Leistungsprinzip demokratisch gewählte Repräsentanten vertreten zu sein."
Viele westliche Beobachter der rumänischen Revolution machen aus ihrer Skepsis über die Erfolgschancen der jüngsten Ostblockdemokratie auch kein Hehl. Man sollte trotz aller Bedenken aber nicht vergessen, daß Demokratie gelernt sein will. Erst wenn das rumänische Volk sich von seinem Schreck erholt hat, wird man sehen, ob die neuen Machthaber Rumäniens es mit der Demokratie ernst meinen, oder die Macht mit altbewährten oder scheindemokratischen Mitteln halten wollen. Trotz aller Unkenrufe muß man den Frauen und Männern um Ion Iliescu auch Sinn für den Freiheitsdrang ihres Volkes bescheinigen. Ebenfalls am 7. Januar verkündete RADIO BUKAREST: "Der Rat der Front der Nationalen Rettung informiert uns, daß er infolge vieler Briefe und Appelle der Bürger, auf der Grundlage der in der Programmplattform enthaltenen Verfügungen ein Dekret für die Paßbehörde ausgearbeitet hat." Schon einen Tag später wurde das Dekret veröffentlicht: "Die einfachen Pässe werden innerhalb von höchstens 20 Tagen nach dem Einreichen des Antrages ausgehändigt."
Es ist mit Sicherheit das Gesetz, vielleicht sogar das einzige, auf das unsere Landsleute im Banat gewartet haben. Die Früchte der Revolution hängen zwar noch sehr hoch, für viele Banater Schwaben sind sie aber greifbar nahe.
Wir wissen alle, daß Meinungen wie "Ich denke, daß eine Veränderung der Lage in Rumänien - das heißt Beseitigung der Unterdrückung, aber auch Chancen der inneren Entwicklung des Landes - viele Deutsche dazu veranlassen wird, ihre an sich schon getroffene Entscheidung, das Land zu verlassen, noch einmal zu überdenken ..." oder "Ich hoffe inständig, daß die Menschen hier in Rumänien wieder für sich und ihre Kinder Hoffnung sehen und daß dann möglicherweise doch weniger ausreisen als bisher beabsichtigten ...", auch wenn sie von so erfahrenen Politikern wie Hans Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff stammen, die Realität verkennen.  Wer in seiner Heimat so einsam und fremd ist, wie es die Deutschen im Banat und in Siebenbürgen sind, dem wird die Fremde schnell zur Heimat. Die Kunst, dies zu verstehen, liegt in der seelischen Fähigkeit des Einzelnen, eine solche Tragödie im Geiste nachzuvollziehen.
Anton Potche

aus BANATER POST, München, 20. Februar 1990

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