Montag, 8. Oktober 2012

Der Wendehals

Das Wesentliche eines Namens
Was ist ein Wendehals? Vor einem Jahr hätte die Mehrheit von uns noch mit einem unwissenden Achselruck auf diese Überrumpelungsfrage reagiert. Man muß schon ein Naturfan oder gar Ornithologe sein, um auf Anhieb darauf zu antworten. Das ist auch keineswegs verwunderlich, wenn man bedenkt, daß die Vögel, die ihre Köpfe samt Schnabel um 180° drehen können, ja nicht so zahlreich wie die Spatzen durch die Gegend fliegen.
In einem Vogellexikon ist unter anderem auch folgendes über den Wendehals zu lesen: "Etwas über Sperlingsgröße; GL 16,5 cm, Gewicht 30 - 39 g. Höhlenbrüter. Spechtartig im Verhalten und im Körperbau, so mit Kletterfuß und Leimrutenzunge ausgestattet, aber ohne Stützschwanz und Meißelschnabel. Gefieder weich, eulenartig, rindenfarbig mit Wellenzeichnung (Schutzmuster). Unauffällige, nirgendwo ausgesprochen häufige Vögel. Eine Gattung mit zwei Arten: Braunkehl-Wendehals (Jynx ruficollis) in Afrika und Europäischer Wendehals (Jynx torquilla) in Europa und Asien."
Ein eigentümliches Kopfpendeln, das als Abschreck- und Balzbewegung dient, hat diesem Vogel zu seinem volkstümlichen Namen verholfen. Der Vogelforscher v. Lucas beschreibt dieses Verhalten wie folgt: "Er breitet den Schwanz aus, reckt den Hals in die Höhe, sträubt die Kopffedern und führt dann mit Hals und Kopf eigentümliche Verrenkungen aus, indem er den Hals einzieht und vorschnellt oder seitlich hin und her dreht." Dabei zischt der Vogel vernehmlich. Das erhöht die "schlangenartige" Wirkung dieses Gebarens erheblich. Bei der Nahrungssuche beutet der Wendehals erst eine Fundstelle - etwa ein Ameisennest - gründlich aus, ehe er zur nächsten fliegt. Mit seiner Leimrutenzunge ist er hervorragend zum Ameisenfang befähigt... In letzter Zeit nimmt der Bestand der Wendehälse bei uns ab. Nach den Angaben von H. Menzel erleidet die Art in den Durchzugsgebieten Verluste durch Abschuß.
Der Wendehals wurde, wie viele seiner Vogelgenossen, in den letzten Jahren tatsächlich immer seltener, und daß er in diesem nicht gerade vogelfreundlichen Jahrhundertausklang auch noch zu kaum überbietbarem Ruhm gelangen würde, ließ sich der optimistischste Vogelfreund wohl kaum erträumen. Natürlich hat der alles Leben auf diesem Planeten beherrschende Mensch ihm zu dieser Ehre verholfen.
Die menschliche Gesellschaft zeugt durch ihre Dialektik immer neue Menschenspezies. Diese werden ihren äußerlichen und charakterlichen Erscheinungen gemäß getauft. Weil des Menschen Naturbekenntnis gerade eine lobenswerte Renaissance erlebt, lag bei der Geburt der jüngsten Menschenart nichts näher auf der Hand, als ihr einen Namen aus der strapazierten und viel bedauerten Umwelt zu geben. Menschen-Wendehals heißt die gesellschaftliche Mißgeburt, die der Zufall in der Sterbestunde des Sozialismus noch in die Welt gesetzt hat.
Der Menschen-Wendehals kann zwar seinen Kopf mit Schnabel nicht um 180° drehen; er würde sich dabei das Genick brechen, was ja auch kein großes Malheur wäre; um so schneller kann er aber seine Gesinnung mit Schnabel drehen. Ob er dabei anderen Menschen großen Schaden zufügen kann, ist eher unwahrscheinlich. Als besonders gefährlich muß man ihn also nicht unbedingt einstufen. Die spektakulären Gesinnungswendungen dienen vorwiegend parasitären Zwecken oder sie sind ein Auswurf seiner Feigheit. Dieser ungefiederte Wendehals hat sich mittlerweile über ganz Europa ausgebreitet, und wie jedem Kleinkind schenkt man auch ihm die gebührende Aufmerksamkeit.
Wenn wir unser gestriges Leben nur im Schnellauf Revue passieren lassen, so werden wir ebenso schnell auch dem einen oder anderen Menschen-Wendehals begegnen, denn der ist nun mal überall dort, wo die Geschichte ackert. Wir müssen unseren alten Bekannten ja nicht unbedingt öffentlich bloßstellen oder gar richten. Diese billige Genugtuung können wir uns ruhig sparen. Dem Zeitgeist gemäß sollten wir ihn aber doch entsprechend beachten und ihm sagen, daß wir ihn kennen.
Aus dieser Perspektive betrachtet, kann Kind-Wendehals getrost weiterflattern. Als Erwachsener wird er bestimmt nicht mehr beachtet. Und es wird ihm auch nicht besser gehen als seinem aussterbenden, befiederten Namensvetter.
Anton Potche

aus BANATER POST, München, 10. Dezember 1990

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