Mittwoch, 20. Februar 2013

Bilder einer vergewaltigten Seele

Zur Lesung Herta Müllers in Ingolstadt, Ende Februar
Die in Nitzkydorf/Banat geborene Herta Müller las am 22. Februar im Studio des Ingolstädter Herzogskastens aus ihren Werken. Es waren diesmal zwei unveröffentlichte Texte.
Der erste war eine, der Form nach dem Essay nahestehende, Auseinandersetzung mit den Beweggründen zur Heimataufgabe und der Problematik der Suche nach neuen Lebensinhalten in einer fremden Welt. Die Sätze dieses Textes, die kaum ein Komma benötigten, sind in ihrer Knappheit zwar nicht neu, die klaren, man könnte meinen, einer sorgfältigen politisch-sozialen Analyse entsprungenen Aussagen, die sie aber enthalten, sind bei Herta Müller zumindest ungewöhnlich: "Alles ist bewacht... Wenn die Bewachung nicht wirklich ist, ist sie in der Vorstellung... Das Gegenständliche ist verschwunden. Man hat nichts mitgenommen, außer sich selbst."
Wer nun glaubte, an diesem Abend eine neue, in ihrer Sprache gewandelte Schriftstellerin zu erleben, der wurde bald eines Besseren belehrt. 
"Das Land am Nebentisch oder Avram" war der zweite Prosatext. Ballungen von kurzen Sätzen malen die Bilderfolge eines gestörten Verhältnisses Mensch - Umwelt. Obwohl die Abneigung des sich selbst Suchenden zu seiner geistig verstümmelten Umgebung im Fortschreiten der "Erzählung" verständlich wird, muß es auf den Zuhörer und späteren Leser doch abstoßend wirken, wenn die Verfremdung so weit führt, daß sie selbst die Menschengeburt als gefühlslosen, der Mutter lästigen Vorgang darstellt: "Sie waren fremd, doch nicht wie die Frau, aus deren Bauch er ins Dorf gefallen war." Der von einem verlogenen, heuchlerischen System geistig und seelisch vergewaltigte Avram sucht verzweifelt nach Möglichkeiten, um eine endgültige Linie zwischen seinem eigenen, wirklichen Ich und der nach außen vorgetäuschten Person zu ziehen. Der Held Herta Müllers unternimmt nichts. Er befindet sich stets in anderen Situationen, aus denen sich ihm neue, meist ebenso hoffnungslose Perspektiven eröffnen. Dorf, Stadt, Flucht, Tod, eine Welt, in der Avram schließlich keine klaren Konturen erkennen kann, sind die Bildstationen, aus denen der Zuhörer sich selbst eine Geschichte basteln kann.
Als in der folgenden Diskussion ein Zuhörer in der "Beschreibung des Bahnhofs", wie er es formulierte, konkrete Bilder erkannt haben wollte, kam Herta Müllers Replik fast abweisend: "Aber ich habe doch gar keinen Bahnhof beschrieben." Beschreibung und Handlung werden von Herta Müller auch weiterhin als klassische Werkzeuge der Epik abgelehnt. Bilder, oft nur deutbar, sollen wohl Erlebtes oder Erlebbares suggerieren. Muß man nicht selbst Künstler oder zumindest mit einer beflügelten Fantasie ausgestattet sein, um die anvisierten Suggestionen genießen oder erleiden zu können? Durchaus möglich, wenn man bedenkt, daß anwesende Künstler und Kulturpolitiker in anerkennenden Worten schwelgten. Also doch Kunst.
Für den gewerblich oder amtlich tätigen Alltagsmenschen, der in der Literatur geistige (Ent)Spannung,  Information oder auch Unterhaltung sucht, bleibt Herta Müllers Prosa bestimmt ein Stiefkind. Die geringe Zahl der Zuhörer (15) wird wohl darauf zurückzuführen sein, denn an Bekanntmachungen dieser Veranstaltung durch Presse und Rundfunk fehlte es nicht. Und immerhin ist Herta Müller Trägerin des Marieluise-Fleißer-Preises der Stadt Ingolstadt (über 100.000 Einwohner).
Anton Potche
aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 14. April 1991

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