Montag, 29. April 2013

Unbewältigt: Vergangenheit und Gegenwart

Gedanken zum Theaterstück "Die Aussiedlerin" 
Regie: Thomas Wenzel
Die Berliner Compagnie ist eine Theatergruppe aus Berlin-Kreuzberg, die sich dem zeitkritischen Theater verschrieben hat. Das Ensemble spielt seit 1982 seine Stücke in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich Luxemburg, in der Schweiz und in den Niederlanden.
Am 14. März 1991 gastierte die Truppe mit dem Theaterstück über Arbeitslosigkeit, Fremdenhaß und die neue nationale Begeisterung (so der Untertitel) "Die Aussiedlerin" von Gerhard Fries (der auch die Rolle des Dr. Alfred Überle übernommen hat) in Ingolstadt.
Heiliger Abend im Wohnzimmer der Familie Klonz. Mutter Sophie ist von den traditionellen Stationen dieses Tages in Anspruch genommen: das Essen, der Kirchgang, die Sorge um das Wohlergehen der Kinder. Evelyn, die Tochter, hat just an diesem Tag den berühmten Filmemacher Wilhelm Babek kennengelernt. Sie bewundert ihn und hat ihn eingeladen, ganz altruistisch an ihren Bruder Dieter, ein verträumter Gerneschauspieler, denkend. Als Gast weilt Miriam Walanjuk aus Polen bei Familie Klonz. Sie ist erst gekommen, hat ihre Papiere noch nicht in Ordnung, will bleiben.
Das Warten auf den großen Wilhelm Babek verdrängt die christlich-festliche Bedeutung des Abends. Die persönlichen Probleme verschwinden in der Spannung. Miriam, die Aussiedlerin, bleibt  mit ihren Problemen und Gefühlen allein. Wilhelm Babek beherrscht in seiner Abwesenheit die Szene. 
Die Hausglocke läutet. Es kommt... Dr. Alfred Überle. Der Vertriebenenfunktionär kennt sich in Volkszugehörigkeitsproblemen aus. Er ist ein alter Freund der Familie. Gemeinsame Vergangenheit in einer verlorenen, aber nie aufgegebenen Heimat hielt die Beziehung über Jahrzehnte aufrecht. Der Dialog schafft schnell Klarheit.
Evelyn ist ungeduldig und unbeherrscht. Dieter verkennt in seiner Karrieresucht die Zuneigung Miriams. Dr. Überle ist aufdringlich, allwissend, gerechtigkeitsbesessen. Die Mutter wirkt unsicher, will Weihnachtsatmosphäre retten. In diesem Chaos von Gefühlen und Interessen wirkt Miriam, die Aussiedlerin, immer hilfloser.
Er ist noch immer nicht da, der erfolgreiche Regisseur Wilhelm Babek. Die Hausglocke. Evelyn schnellt wie eine Feder... Hans Pletschak kommt. Frau Klonz hatte ihn eingeladen. Er mäht gelegentlich den Rasen. Er ist jetzt nicht in seiner Neonaziuniform, sondern in dem grünen Anzug, der ihm zu klein ist und nicht zu dem kahlgeschorenen Kopf passen will. Seine Sprache ist rudimentär, voller Invektive, einer ausländerfeindlichen Gruppenideologie entsprungen: Er selbst ist ein Sklave eingetrichterter dogmatischer Parolen. Und doch ist auch er gegen Gefühle nicht gefeit. Er scheint Sympathien für die Aussiedlerin, für ihn die Polin, zu entwickeln. Dr. Überles Recherchieren in Miriams Volkszugehörigkeitsberechtigungen oder -nichtberechtigungen kann er geistig kaum folgen.
Dieser bohrende Ewiggestrige, der selbst die Vertreibungsnöte längst vergessen hat und vom Vorsitz eines neuen deutschen Vereins träumt, spitzt den Konflikt weiter zu. Er spricht Miriam das Recht auf die deutsche Volkszugehörigkeit ab. Die Aussiedlerin spürt, daß menschliche Erwägungen in dem von Dr. Überle makaber inszenierten Prozeß endgültig auf der Strecke bleiben. Akten und Paragraphen haben sie als Ausländerin überführt. Fremdenhaß schlägt ihr entgegen. Trotzgefühle werden wach. Die Aussiedlerin kämpft. Sie greift auf alte Briefe zurück und entlarvt Dr. Überle als Kriegsverbrecher. Der in die Enge getriebene Rechtfertigungskünstler schlägt mit Beschuldigungen um sich. Er braucht Mitschuldige und klagt Frau Klonz der Mitwisserschaft am Auschwitz-Drama an. Die kränkliche Frau ist der Auseinandersetzung nicht mehr gewachsen und stirbt unter der Last der sinnlosen Anklage.
Es läutet. Endlich. Wilhelm Babek kommt. Der Berühmte zieht alle in seinen Bann. Die Anwesenheit der Toten wird sekundär. Der Regisseur sucht Darsteller für eine neue Produktion. Die Chance, Filmkarriere zu machen, erdrückt die Gefühle, mordet selbst die Ehrfurcht vor dem Tod. Wilhelm Babek ist ein ruchloser, skrupelloser, mieser Spieler, Produzent von pornographischer Subkultur. Er braucht Kriechtiere, denkunfähige Statisten. Er findet sie hier in dieser Runde. Um Karriere zu machen, lassen sie sich entwürdigen, alle: Evelyn Klonz, Dieter Klonz, Hans Pletschak, Dr. Alfred Überle... Fast alle: Miriam Walanjuk, die Aussiedlerin, bewahrt ihre Würde. Sie bleibt Mensch in ihrer Not und verlässt angeekelt, aber mit erhobenem Haupt eine Runde, in der an diesem verhängnisvollen Heiligen Abend Repräsentationsfiguren nicht bewältigter Vergangenheit und menschlicher Werte entbehrender Gegenwart zusammengefunden hatten.
Ein ebenso tragisches wie mutiges Finale löst keinesfalls den Konflikt des Stückes. Es beauftragt den Zuschauer, sich mit der besonders für übereifrige Nationalapologeten, die selbst in Aussiedlern nur das Fremdartige erkennen, sehr brisanten Frage zu beschäftigen: Tragen Aussiedler unerkannte Werte in ihrem Gepäck, die unserer vorwiegend an Leistung und Anerkennung orientierten Gesellschaft bereits abhanden gekommen sind?
Einer spürbaren Betroffenheit nach dem letzten verklungenen Wort folgte langanhaltender Beifall. Vor dem einfachen, aber aussagekräftigen, einen rötlich schimmernden Wolkenhimmel darstellenden Bühnenbild haben die Zuschauer ein bewegtes Schauspiel erlebt. Die Aktualität des Themas ließ dramaturgische und darstellerische Schwachpunkte des Stückes als kaum wahrnehmbare Begleiterscheinungen gelten.
Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 30. Juni 1991

Dienstag, 23. April 2013

"Gruß aus Jahrmarkt" (IV)

Namen, Jahreszahlen und Ereignisse 
in der 70jährigen Geschichte der 
Loris-Kapelle
von Prof. Hans Speck


Das Programm umfasste die Ouvertüre "Dichter und Bauer" von Franz von Suppé, Ausschnitte aus "Dreimädelhaus" von Franz Schubert, ein Bläserduett aus der Oper "Martha" von Friedrich von Flotow und wieder zwei Kompositionen von Peter Loris, den Marsch "Fest und einig" sowie die Romanze "O, gedenket meiner". Die Aufnahme von anspruchsvollen Werken in das Programm und deren minutiöse Interpretierung waren nicht nur der Beweis gutausgebildeter Musiker, sondern viel mehr auch ein Versuch, musikerziehend auf die Zuhörer einzuwirken.
Je mehr Vergnügen und Amüsement überhand nahmen, desto unaufhaltsamer verfiel der Geschmack und das Urteilsvermögen des breiten Publikums. Das wurde besonders im Musikleben spürbar. Leeres Virtuosentum, banales Tongeklingel fanden immer willige Ohren, während es mit Werken großer Komponisten zunehmend schwerer wurde, ein verständnisvolles Publikum zu erreichen. Die in dieser Hinsicht entfaltete pädagogische Tätigkeit forderte Ausdauer und Geduld, aber sie wirkte sich bewährend auf die späteren Generationen aus und wurde von den folgenden Dirigenten der Loris-Dynastie weitergeführt. Ein Festkonzert ohne Werke großer Meister wird bei den gegenwärtigen Jahrmarkter Musikfreunden kaum ankommen.
Ab 1923 gab die Kapelle jährlich ihr öffentliches Konzert und spielte bei vielen Gelegenheiten zum Tanz auf, sei es zur Kerwei, bei Hochzeiten oder in den Gasthäusern Zum scharfen Eck, Zum Hirsch, Kolling, Pannert; schwere Stiefel und leichtes Schuhwerk stampften die Dielen oder den Grasboden, die Loris-Kapelle wurde nicht müde, Walzer um Walzer und Polka um Polka zu bieten. Sie begleitete Freud und Leid mit gutem Klang.
Die Kapelle wurde nicht nur zu einer Formation guter Instrumentalisten, sondern ein geschlossenes Ganzes, das sich von der eigenen Musikfreudigkeit immer wieder mitreißen ließ. Materielle Entlohnungen wurden  daher oft zugunsten "wohltätiger Gemeindezwecke" abgegeben. Dafür sprechen die noch erhaltenen Einladungen. Ob bei dem sechsten schwäbischen Trachtenball am 13. Januar 1934 im Gasthaus Zum Hirsch oder beim Trachtenball am 22. Januar 1938 im Kollingschen Gasthaus, die Musik besorgte immer "die vorzügliche Lorissche Musikkapelle". In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen entfaltete Peter Loris auch eine vielseitige kompositionelle Tätigkeit.
* * *
Die Loris-Kapelle spielte schon in den 1920ger Jahren in anderen Ortschaften, und das sogar ohne Kapellmeister. Hier sieht man Loris-Musikanten auf dem Kirchweihfest in Panjowa.
v.l.n.r: Anton Krämer (Spitzname = Berns Toni), Johann Groß (Merte Hans), Ignaz Rosar, Johann Zeich (Kowlenzer Hans), Franz Jost (Windrich Franz), Andreas Kilzer (Schneider Andres), Peter Schmidt (Bandin Peter), Johann Loris (Fizigoi Hans), Andreas Linz // vorne: Georg Tasch und Adam Grund (Gyula Adam)

Quelle: Das Banat und die Banater Schwaben, Band 3, Trachten und Brauchtum - Herausgeber: Landsmannschaft der Banater Schwaben, München, 1986
aus NEUE BANATER ZEITUNG, Temeswar, 8. August 1978

Freitag, 19. April 2013

Cighid war nur die Spitze


Das Bayerische Rote Kreuz (BRK) hat sich gleich nach der rumänischen Revolution 1989 für humanitäre Hilfe in Rumänien eingesetzt. Die Mitgliederzeitschrift echo des BRK hat im vergangenen Jahr mehrere Berichte über gezielte BRK-Hilfen in Rumänien veröffentlicht.
Jetzt, fast anderthalb Jahre nach der "Wende" in Rumänien, entwickelt das BRK besonders Aktivitäten im Bereich der Waisenbetreuung. echo schildert in seiner April-Ausgabe 1991 von einer Initiative des Neutraublinger Kinderarztes Dr. Michael Drescher, der drei schwerbehinderte rumänische Kinder im Alter von 10, 12 und 13 Jahren in die Orthopädische Klinik des BRK in Lindenlohe brachte, wo sie erfolgreich operiert wurden. Dr. Drescher hatte die Kinder "in einem jener berüchtigten Waisenhäuser entdeckt". Die armen Geschöpfe waren "abgeschoben, vergessen, geistig zurückgeblieben, sprechunfähig und körperlich mißgebildet, ohne Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben". Weiter heißt es in dem Bericht, daß die Mütter der drei Kinder, "nach denen das BRK suchte, fast dankbar und erleichtert eine Verzichtserklärung unterschrieben haben, die Väter sind gänzlich unbekannt".
Diese wenig erfreulichen Nachrichten über das Schicksal des ungeheuerlichsten aller kommunistischen Hinterlassenschaften, der Waisenkinder in Rumänien, wurden auch von Staatssekretärin Barbara Stamm in einem Interview des Bayerischen Rundfunks vom 24. April 1991 bestätigt. Die Politikerin hat sich die Lage einiger rumänischer Waisenhäuser vor Ort angesehen. Besonders die hygienischen und sanitären Anlagen sind in vielen Heimen noch sehr dürftig. Frau Stamm: "Die hygienischen Verhältnisse sind zum Teil dermaßen schlecht, daß die Kinder unweigerlich Ansteckungskrankheiten bekommen müssen. Wir waren zum Beispiel in einem Heim, da haben über 80 Prozent der Kinder Hepatitis. Das Haus ist unter Quarantäne."
Die Staatssekretärin plädierte für gezielte Hilfen. Das "Gießkannenprinzip" sei nicht hilfreich. Es sei aus humaner Sicht bestimmt richtig, Kinder aus solchen Heimen zu adoptieren, denn "es sind ja nach wie vor Niemandskinder", unter ihnen auch viele Säuglinge (also nach Ceauşescu geboren?!). Die Adoptionsstelle beim Bayerischen Jugendamt in München schafft in Zusammenarbeit mit den zuständigen rumänischen Behörden die erforderlichen Voraussetzungen für eine gewünschte Adoption.
Weil die eingeleiteten Hilfsmaßnahmen in Păstrăveni, Arad und Lippa langfristig angelegt sind und weil viel Geld zur Sanierung der Heime erforderlich ist, ist die Initiativgruppe um Frau Barbara Stamm auf Spenden aus der Bevölkerung angewiesen. Wer den vielen namenlosen und ungeliebten Kindern in Rumänien helfen will, kann auf das Konto Nr. 24444 bei der Bayerischen Landesbank München seine Spende überweisen.
Der rumänische Tennismanager Ion Ţiriac hat sich auch bereits vorbildlich für die Waisenkinder in Rumänien eingesetzt. In der oben erwähnten Sendung des Bayerischen Rundfunks wurde mitgeteilt, daß er allein für rumänische Waisenhäuser 250 Millionen DM Spenden gesammelt hat. Seinen eigenen Spendenbeitrag wollte er auf Reporteranfrage nicht nennen.
Es wurde in den letzten Monaten immer deutlicher, daß das weltweit beachtete Drama von Cighid nur die Spitze eines Eisberges von unvorstellbarer Unmenschlichkeit war. Das Trauma der Ceauşescu-Diktatur ist noch lange nicht überwunden.
Anton Potche

aus BANATER POST, München, 5. Juni 1991

Montag, 15. April 2013

"Gruß aus Jahrmarkt" (III)

Namen, Jahreszahlen und Ereignisse 
in der 70jährigen Geschichte der 
Loris-Kapelle
von Prof. Hans Speck

Zu diesem raschen Aufschwung trug auch der jüngere Bruder des Kapellmeisters, Martin Loris, bei. Er war bis September 1910 Musiker beim 46. Infanterie-Regiment und leitete dann bis 1912 gemeinsam mit seinem Bruder Peter die Kapelle. Im selben Jahr kam er zum 61. Infanterie-Regiment Temeswar, wo er auch am hiesigen Theater bis zum großen Brand von 1920 die Stelle des ersten Posaunisten inne hatte. 
Die Kapelle unter der sachkundigen Leitung von Peter Loris konnte sich schon in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg in der engeren und weiteren Heimat einen klangvollen Namen schaffen. Sie bestand eigentlich aus zwei Gruppen, "Streich" und "Blech". "Streich" umfasste folgende Instrumente: Trompete, C-Klarinette, Ventilposaune, Kontrabass (Bassgeige), zwei Sekundgeigen und zwei bis drei Primgeigen. Die "Blechmusik" bestand aus den auch heute in unseren Dorfkapellen allgemein vorkommenden Instrumenten.
Der Ausbruch des ersten Weltkrieges brachte das Spiel der Dorfmusikanten zum Schweigen. Von 1914 bis 1918 fanden Tanzunterhaltungen nur in der Faschingszeit statt. Eine Ziehharmonika, gespielt von Sebastian Britt, erinnerte die Dorfbewohner an die "gute alte Zeit", die der Kanonendonner und die Schützengräben so rasch vergessen ließen.
Loris-Kapelle im Jahre 1919
Hochzeit der Brautleute
 Mathias & Susanna Rastädter, geb. Stass
Was man in den Kriegsjahren versäumt hatte, da die Aktiven mehr oder weniger alle den Soldatenrock anziehen mussten, wurde nach deren Heimkehr mit bemerkenswerter Energie nachgeholt. Am 23. Mai 1920 veranstaltete die Kapelle im Wirtshaus "Zum Hirsch" ihr erstes Konzert der Nachkriegszeit. Auf dem Programm standen u. a. auch zwei Kompositionen von Peter Loris: der Marsch "Frei und kühn" und das Potpourri "Erinnerungen an die ruhmreichen Jahre". Neue Kräfte wurden herangezogen, und am 6. Februar 1923 trat die Loris'sche Knabenkapelle im Gasthaus "Zum scharfen Eck" mit einem großangelegten Konzert vor das Publikum.

aus NEUE BANATER ZEITUNG, Temeswar, 5. August 1978

Mittwoch, 10. April 2013

Der General in "Veranda"


"Der rumänische Verteidigungsminister ist heute Abend Gast in Dagobert Lindlaus Talkshow", sagte mir ein Arbeitskollege. Victor Stănculescu, ging es mir durch den Kopf, ein schillernder Name des rumänischen Umsturzes, ein Gewächs der roten Aristokratie, falls es so etwas überhaupt gibt. Aber was gibt es in Rumänien nicht alles an Gesellschaftsauswüchsen? Der 1928 geborene Atanasie Victor Stănculescu soll fließend französisch sprechen und von deutscher Militärliteratur beeindruckt sein. Schon sein Vater und Großvater waren Berufsoffiziere. Während der antikommunistischen Revolution ließ er sich angeblich einen Fuß in Gips legen, um an den von Ceauşescu angeordneten Unterdrückungsmaßnahmen nicht teilnehmen zu müssen. Schon seit 1985 war der General Ceauşescus Erster Stellvertretender Verteidigungsminister und ist zur Zeit Rumäniens Verteidigungsminister.
Wissen genug (allerdings aus dritter Hand), um auf den General neugierig zu sein und bei Feierabend schneller zu agieren, als es dem Meister lieb war. Also nichts wie heim vor den Bildschirm, die Videokassette rein und mithören, mitdenken, mitstaunen, mitärgern.
Der Generaloberst saß da wie aus der Schachtel. Diese Uniform, diese Sterne, nur die Stiefel fehlten. Ich mußte einmal einem die Stiefel putzen. Heute spür ich noch die Wut im Leib, wenn ich daran denke. Mein Urgroßvater erzählte mir mal voller Stolz, daß er dem General die Stiefel putzen durfte. So ändern sich die Zeiten. 
Die Sendung lief. Der Reporter war bemüht, konkret, direkt und je klarer zu fragen. Alles vergeblich. Der General war selbstsicher, sein Lächeln überlegen, aber nicht herausfordernd, und sein Entschluß, genügend zu reden, ohne sich jedoch die kleinste Blöße zu geben, unverkennbar.
Dagobert Lindlau: Warum ist er (Ceauşescu) so schnell an die Wand gestellt worden? Damit er nicht reden kann? 
Victor Stănculescu
Victor Stănculescu (sprach rumänisch, wurde von einem Übersetzer in Simultanübertragung übersetzt): Von außen gesehen, von weit entfernt gesehen, ist das das Bild, das die ganze Welt mitbekommen hat. Die Augenblicke, die wir in diesen Tagen durchlebt haben, als in verschiedenen Orten im Land geschossen worden ist, gegen die Armee auch geschossen worden ist, die diesen Revolutionsprozeß ja unterstützt hat, gab es den Wunsch, daß man möglichst schnell diesen Menschen aus dem Spiel bringt, nämlich jenen, der diese Konterrevolution weiterhin aufrechterhalten konnte. Das war eben Ceauşescu. Deshalb wurde auch diese Entscheidung getroffen. Sie wurde in der Nacht vom 24. auf den 25., also in der Weihnachtsnacht, getroffen.
Dagobert Lindlau: Sie haben mit Ceauşescu und seiner Frau gesprochen, während Sie die beiden zum Hubschrauber gebracht haben. Was ist da geredet worden?
Victor Stănculescu: Ich habe sie bis zum Aufzug gebracht, der im ersten Stockwerk stand und ich habe gesagt, daß sie los müßten, losfliegen müßten, denn es gibt hier keinen Ausweg mehr, keine Lösung mehr. Ich habe gewünscht, daß ich sie loslösen wollte, also von der Macht loslösen wollte.
Dagobert Lindlau: Wir wissen, daß das Militär zuständig war für die Ausbildung von Terroristen in Buzău in der Fallschirmjägerschule und in anderen Ausbildungslagern. Bisher haben wir geglaubt, das sei Sache der Securitate gewesen. Haben Sie davon gewußt?
Victor Stănculescu: Das ist keine unrichtige Information. Nein, es ist eine falsche Information. Wir haben nicht die Terroristen ausgebildet. In Buzău gab es eine Einheit. Dort war ja die wichtigste Fallschirmeinheit, die erste (oder 1.) auch. Dort haben wir keine Ausländer ausgebildet. Auf das Sie sich beziehen, möchte ich sagen, Sie beziehen sich also auf diese Schulen der Staatssicherheit, die auf der Grundlage internationaler Beziehungen, die gewünscht wurden, die durchgesetzt wurden, die diese Führungskräfte für das Ausland ausgebildet haben.
So ging es weiter mit Fragen und Antworten zu den Themen Demokratie, Parteienspektrum, Pressefreiheit und Rolle der Armee in der jetzigen politischen Konstellation Rumäniens.
Bei einem Dialogeinwurf des ebenfalls als Gesprächspartner geladenen ehemaligen Staatssekretärs Klaus Bölling verfiel der General sogar in die alten, von dem stotternden Ceauşescu so sehr geprägten Losungsantworten, die stets Zweifel an der Objektivität des im Ausland herrschenden Rumänienbildes beinhalteten: "Ich würde Herrn Bölling einladen, als mein Gast einen Besuch in Rumänien durchzumachen, um dort zu sehen, wie wir Demokratie realisieren. Es gibt einige Nuancen, die, das möchte ich noch einmal sagen, die vielleicht durch die Einflußnahme der französischen Ader oder durch andere Beziehungen, amerikanische, englische Verbindungen, die vielleicht nicht so exakt wiedergegeben werden."
Und dann kam Anneli Ute Gabanyi, die Rumänienexpertin schlechthin, zu Wort. Freilich ist es schwer, aus der Fülle ihres Wissens das Wichtigste und der Situation Gerechteste zu sagen. Nein, nein! Gottlob saß ich im Fernsehsessel und konnte unverletzt tiefer sinken. Was die Rumänienkennerin par excellence bot, war fast einhellige Zustimmung für den gewieften Taktiker, der es in dem Chaos der Revolution so gut verstand, im rechten Augenblick die Kurve zu nehmen. Kein Frontalangriff im offenen Feld, obwohl es in ihrem Buch "Die unvollendete Revolution" unmißverständlich heißt: "Der Prozeß gegen eine Gruppe von Securitate-Offizieren, die in Temeswar eingesetzt waren, wird von Beobachtern schlichtweg als 'Parodie' bezeichnet angesichts der Tatsache, daß hier untergeordnete Chargen vor Gericht gestellt werden, während die eigentlichen Verantwortlichen nicht einmal im Zeugenstand erscheinen müssen. Zu ihnen gehört zweifellos der ehemalige ZK-Sekretär Ion Coman, dem von Ceauşescu die Einsatzleitung der Militär- und Sicherheitskräfte in Temeswar übertragen worden war, aber auch Generale wie der derzeitige Verteidigungsminister Stănculescu und Innenminister Chiţac."
Waren es die großen Sterne des Generals, die sie verhinderten, offen zu provozieren? Aber was hätte es schon genutzt? Der Reporter hat all seine fachmännischen Tricks ins Feld geführt, mal naiv, mal zitatenreich fundiert, ohne dem General sensationelle Antworten entlocken zu können.
Dagobert Lindlaus Schlußworte sprechen Bände: "Meine Damen und Herren, ich habe heute eine ganze Menge gelernt. Darunter unter anderem, daß man auch das direkte Antworten auf eine direkte Frage lernen muß. Das sind wir sehr gewöhnt. Ich habe in meiner Berichterstattung aus Ihrem (zu Stănculescu) Land sehr oft erlebt, daß es eine bestimmte Art der Wortwahl gibt, die für uns schwer nachzuvollziehen ist."
Die Studiogäste der ARD-Sendung "Veranda" und die meisten Fernsehzuschauer waren so in der Mitternachtsstunde des 10. April um eine Erkenntnis reicher. Ich, und mit mir vielleicht einige wenige aus Rumänien stammende "Veranda"-Zuschauer, waren um eine Stunde Schlaf ärmer.
Anton Potche
aus BANATER POST, München, 20. Mai 1991 


Mittwoch, 3. April 2013

Johrmarker Sprich un Sprichelcher - 32

In der Naacht sin alle Katze schwarz.
☻     ۩     ☺
Gsammelt vum Frombach Franz alias Gerwer Franz  (1929 - 1999)