Dienstag, 24. Januar 2017

Jetzt war's der "Maientanz"

Warum drängen 500 Reschitzaer zu einem geselligen Zusammensein bei Krenwürstel, Bier und guter Musik? Auch die neue Tanzunterhaltung des deutschen Operettenensembles schmeckte noch.

von Hans Fink

Die Bewohner von Alt-Sadowa entzünden ein Mailicht, um den Winter zu vertreiben, die Mitglieder und Freunde des deutschen Operettenensembles von Reschitza singen und tanzen - gleich 500 nahmen am vorigen Wochenende an dem sogenannten "Maientanz" teil, der im Namen des Ensembles in der Kantine des Maschinenbaubetriebs im Lunca-Bîrzavei-Viertel veranstaltet worden ist. Nach mehr als zwei Wochen Kälte, Regen und Nebel in diesem stark verspäteten Frühjahr hört sich das Motto der Unterhaltung - "Der Mai ist gekommen ..." - wie ein Glaubensbekenntnis an. Und wie sie tanzten! Von den 500 Stühlen war kaum je ein Viertel besetzt, jung und alt wiegte sich genießend im Takt der Musik; sobald die Kapelle einmal aussetzte, hörte man sofort Beifallsklatschen und Bis-Rufe. Als am Tage darauf gegen Mittag die Wolken beiseite rückten und der hohe blaue Himmel zu sehen war, als im angenehm warmen Sonnenschein die Kerzen der Kastanien, die Weißdornhecken, die Kranzlblumensträucher und die halbverblüten Apfelbäume aufleuchteten, konnte man wahrhaftig meinen, zu diesem Wunder habe effektiv der "Maientanz" beigetragen ...
Das Operettenensemble ist allmählich zum Mittelpunkt des kulturellen Lebens der deutschen Bevölkerung von Reschitza und Umgebung geworden. Es sei hier nebenbei erwähnt: Die Anregungen zur Vortragsreihe in deutscher Sprache im Rahmen der wissenschaftlich-kulturellen Universität kommen auch von diesem Ensemble. In der Unterhaltungsbranche mischt es seit drei Jahren mit. "Das war 1977", berichtet Dipl-Ing. Oskar Ferch, der Hauptorganisator, "da haben wir gedacht, machen wir mal einen gemütlichen Abend für die Zuschauer der Operette ... für unser Ensemble und seine Freunde. Wir organisierten die Unterhaltung im Kulturhaus, damals kamen 350 Gäste, denn für mehr war nicht Platz. Wir hatten die Loris-Kapelle eingeladen, die vorwiegend deutsche Unterhaltungsmusik spielte. Der Erfolg war durchschlagend: Es wurde die ganze Zeit hindurch ununterbrochen getanzt. So eine gemütliche Unterhaltung mit guter Tanzmusik hatte es seit Jahren nicht gegeben."
Die Begeisterung über diesen Volltreffer wurde bloß durch die Unzufriedenheit jener getrübt, die aus Platzmangel nicht hatten teilnehmen können. Zweifellos war das Ensemble mit seinem Unternehmen in eine Art Marktlücke gestoßen. Seine Leitung zog die Konsequenzen. Im Februar 1978 veranstaltete sie einen Trachtenball im Kantinensaal des Maschinenbaubetriebs, wo 600 Personen Platz haben. Auch der Trachtenball, mit Trachtenpaaren von nah und fern, war ein Erfolg, aber für die Bersaustadt, wo seit langem keine Tracht mehr getragen wird, nicht ganz das Richtige. Seither findet im selben Raum im Fasching ein Maskenball und im Oktober der sogenannte Operettenball statt, immer bei ausverkauftem Haus, wie es in der Fachsprache heißt, ja, die Nachfrage war jedesmal viel größer als die Zahl der Karten. Und mit dem Essen wuchs der Appetit; bald schien der Abstand von Februar bis Oktober zu groß. Dem Wunsch des Publikums entsprechend, wurde deshalb heuer auch ein "Maientanz" veranstaltet. Die Einnahmen sind zur Finanzierung eines neuen Bühnen-Vorhabens und künftiger Ausfahrten bestimmt.

Geriss um die Karten

Das neue Vorhaben ist wieder eine Operette von Robert Stolz (1880 - 1975), zu dem das Ensemble ein besonderes Verhältnis hat, und heißt Tanz ins Glück. Fünf Stolz-Werke hat Spielleiter Franz Kehr bisher vors Publikum gebracht. Zum Auftakt geben das Ensemble und sein Chor drei Lieder aus der geplanten Aufführung zum besten. Dann beginnt der Tanz (und wird nur einmal für eine halbe Stunde unterbrochen, als Oskar Ferch einen musikalischen Ratewettbewerb mit ... zehn unsterblichen Melodien von Robert Stolz aufzieht).
Josef Stritt (li.) & Hans Kaszner jun.
Foto: Archiv Kaszner-Kapelle
Ich komme mir vor wie der Soldat in dem Grimmschen Märchen von den zertanzten Schuhen, nur dass hier nicht Prinzen und Prinzessinnen das Tanzbein schwingen, sondern Arbeiter, Arbeiterinnen, Techniker, Hausfrauen, Beamte und Lehrkräfte. Tango, Ländler, Walzer, Polka, man weiß nicht, was mehr zu bestaunen ist: die Tanzwut der Gäste oder das Repertoire und die Ausdauer der Musikanten. Die Hans-Kaszner-Kapelle aus Jahrmarkt, die zum ersten Mal in Reschitza selbst auftritt, macht ihre Sache nach allgemeiner Einschätzung sehr gut, insbesondere die zwei Gesangssolisten Hans Kaszner junior und Josef Stritt werden einhellig gelobt. Viele Tänzer singen mit. Das ist natürlich in Reschitza, wo man das Singen nicht in der Schule, sondern in der Familie erlernt. Wo man singt, da lass dich ruhig nieder ... Wenn das Sprichwort stimmt, sind im Kantinensaal hauptsächlich gute Menschen versammelt. Und wenn einer vielleicht kein besonderes Verhältnis zu Robert Stolz hat, so muss er doch über gute Beziehungen zum Operettenensemble verfügen, denn die Karten wurden, wie jedesmal bisher, samt und sonders von den Ensemble-Mitgliedern verteilt.
Spielleiter Kehr sähe es gern, wenn von den vielen jungen Menschen, die sich um Karten reißen, mehr als gegenwärtig zum Ensemble stoßen und nicht bloß bis zur dritten schwierigen Sprechprobe oder bis zu ihrer Heirat aushalten würden. Der feste Kern beobachtet mit Sorge eine Schrumpfung sowohl des Ensembles wie auch des Chors und des Orchesters, die bei der kürzlich vorgenommenen Rollenverteilung besonders schmerzlich zu Bewußtsein kam.

Gäste sogar aus Großscham

Andererseits: Dem Operettenensemble gehören laut Franz Kehr mit wenigen Ausnahmen immer noch lauter geborene Reschitzaer an, während bei der Tanzunterhaltung das ganze südliche Banat bis Großscham und Nitzkydorf vertreten ist; es tanzen hier viele, die im Laufe der Jahre zum Reschitzaer geworden sind und den Kapellmeister gleichwohl in herzlichstem Schwäbisch begrüßen. Dipl.-Ing. Oskar Ferch beispielsweise, seit 1958 hier ansässig und als Leiter der Härterei im Maschinenbaubetrieb tätig, stammt aus Zăbrani, seine Frau Maria, Kindergärtnerin, aus Hodoni. Zum ersten Mal sind 30 Bokschaner unter der Leitung des Meister-Konditors Otto Hengstenberger geschlossen herübergekommen, für manche hat die Kaszner-Kapelle den Ausschlag gegeben. "Die Ansprüche an die Unterhaltungsmusik sind gewachsen, seitdem jeder Vierte oder Dritte Tonbandgerät oder Plattenspieler besitzt, da weiß man das Gute zu schätzen", erklärt der Konditor, der in Moritzfeld geboren wurde, in Bokschan wohnt und im Reschitzaer Semenic-Hotel Torten bäckt. "Wären mehr Karten gewesen, wären 200 gekommen." Der geborene Bokschaner Josef Wagner, als Schweißer bei der Flotation des Erzbergwerks beschäftigt, gibt ihm recht.
Von noch viel weiter sind Musikliebhaber zu dieser Unterhaltung angereist. Bei der Selbstbedienungsstrecke, der Kapelle gegenüber, lehnt ein alter Schwabe, der Rentner Matz Löch aus Großscham, das von der Bersaustadt 70 km weit liegt. Mit dem einen Ohr lauscht er in sich hinein und erinnert sich, wie er vor zwanzig und mehr Jahren zum selben Walzer tanzte. Rentner Löch erhielt die Karte zum "Maientanz" von seiner Tochter, die als Wicklerin in der Fabrik für elektrische Maschinen arbeitet und in Reschitza das Abendlyzeum besucht. Aus Großscham sind noch zehn Kerweibuben da. Gegen Morgen steht für sie fest.: Im Herbst muss die Kaszner-Kapelle auch in ihrer Heimatgemeinde aufspielen.
Was hat all diese Menschen angelockt? Ganz offenbar weder die zwei bescheidenen Programmpunkte, noch das Bier zu den Krenwürsteln. Die Aussicht auf gute Musik mit beliebten Melodien und die Aussicht auf eine gemütliche Unterhaltung in zivilisiertem Rahmen haben das getan. "Im Restaurant ist es teuer oder die Tanzfläche ist zu klein", sagt Schlosser Erwin Schier, vom Blooming-Walzwerk, 53. "Junge Leute, die nicht ins Restaurant wollen, können immer noch zu einer Hausunterhaltung, für ältere aber ist so etwas nicht üblich." Eben: beim "Maientanz" dürfen jung und alt fröhlich sein. "Nachdem heuer schon drei Tanzunterhaltungen sein werden", meint zuletzt die Friseuse Angela Stieger, deren Arbeitsplatz keine 200 m von der Kantine entfernt ist, "könnte die Operettengruppe im nächsten Jahr ruhig vier organisieren." Sie steht oder vielmehr tanzt nicht allein mit dieser Ansicht, ja gar nicht wenige Personen sind fest überzeugt, dass ähnliche Unterhaltungen, würden sie monatlich veranstaltet, unvermindert viele Tanzlustige anlockten. Man sollte es auf zwölf Proben ankommen lassen.

aus NEUER WEG, Bukarest, 25. Mai 1980

Dienstag, 17. Januar 2017

Unter der Lupe

Fließend sind die Grenzen zwischen Opferbereitschaft und Heuchelei! "Es ist fast so, als ob die Tatsache, einmal und unvergänglich Täter gewesen zu sein, die Deutschen ewig dazu antriebe, Opfer sein zu wollen, wann immer es sich anbietet." Wie wahr! Das oft bis ins Lächerliche übertriebene Schuldgefühl der Deutschen wird hier von Ulrich Greiner (DIE ZEIT, Nr. 42, 13. Oktober 1995) nicht zum ersten Mal entlarvt. Auch die dritte Nachkriegsgeneration lechzt förmlich - natürlich so öffentlichkeitswirksam wie möglich - nach Opfergängen für das Vergehen der (vieler, aber lange nicht aller) Großväter. Dabei wurde doch schon in Hülle und Fülle von den verblendeten aber auch (oder besonders) von den unschuldigen Menschen deutscher Muttersprache zur Endzeit des unseligen Hitlerregimes und danach gebüßt. Nein, das kann und soll auch keine Entlastung für deutsche Missetaten kurz vor dieser Jahrhundertmitte sein, aber es könnte immerhin so manches Wiedergutmachungsopfer vom Gestank der Heuchelei befreien. Ja, es könnte ... wenn man die Opfer der Ost- und Südostdeutschen vor und nach Kriegsende zur Genüge kennen und in der Auseinandersetzung Vergeben und Versöhnen statt gekünstelter Opfertraumen entsprechend berücksichtigen würde.
Aber wer spricht schon davon? Die deutsche Presse der ersten Nachkriegsjahre ließ Gras über das Problem wachsen und in der Literatur fanden Vertreibung, Flucht, Deportation und Internierung deutscher Frauen, Kinder und Greise leider keine Zeiten überdauernde Ächtung, wie das gerechterweise mit dem schrecklichen Schicksal der Juden geschehen ist. "Donauschwaben? Nie gehört!" betitelte die MITTELBAYERISCHE ZEITUNG im November 1989 eine zweiseitige Reportage über die "fast vergessene Geschichte der Deutschen in Jugoslawien".
Man horcht daher unwillkürlich auf, wenn das von der deutschen Öffentlichkeit kaum noch wahrnehmbare (wegen unzureichender Information) Vertreibungsphänomen von vor 50 Jahren in einer Literatursendung angesprochen wird. Es war allerdings kein deutscher Autor, der am 14. Oktober 1995 in der 3sat-Sendung Buch total, direkt von der Frankfurter Buchmesse, das Wort Vertrieben in den Mund nahm, aber immerhin ein deutsch schreibender und sprechender.
Milo Dor, den Moderator Wolfgang Herles als literarisches k.u.k.-Produkt (in Budapest geborener Serbe, der in Wien lebt und schreibt) vorstellte, erklärte zum geschichtlichen Hintergrund der bosnischen Greueltaten, daß Tschetniks, Ustaschas und Partisanen im Zweiten Weltkrieg mehr Opfer untereinander zu verantworten hätten, als man der Besatzungsmacht zuschreiben könnte. Zu den vielen Menschenopfern, die der Zweite Weltkrieg in dieser südosteuropäischen Region forderte, zählte der Autor auch die vertriebenen Deutschen. Dieses Verbrechen schrieb er überwiegend den Partisanen zu.
Also doch! Deutsche Menschen mußten für Hitlers Wahn büßen. Milo Dor, der einen Abend später, in der Großen Buchnacht im Ersten (ARD, 15. Oktober 1995) wieder zu Wort kam und der aufmerksam lauschenden Menge enthüllte, "ich stamme aus dem Banat; mein Vater arbeitete in einer Temeswarer Brauerei und sprach alle banater Sprachen, ich war selbst als Kind mal in einem rumänischen Dorf und konnte rumänisch mit den Kindern herumpalavern", der serbische Literat mit "griechischer Großmutter", hat es nicht vergessen und ließ es auch die deutsche Öffentlichkeit wissen.
"Aber Elite sein und das Armenrecht beanspruchen wollen: das in der Tat ist faul." (Ulrich Greiner). Hören wir also endlich auf, die von der Geschichtslast ach so gebeugten Schuldopfer einer seit 50 Jahren besiegten Ideologie sein zu wollen. Geschichtsunbelastete Nächstenliebe ist jederzeit menschlicher als falsches Pharisäertum.

Mark Jahr

aus DER DONAUSCHWABE, Aalen, 5. November 1995

Dienstag, 10. Januar 2017